Die Geschichte, die ich mir erzähle


Foto: Sandy Seeber, 2009
Foto: Sandy Seeber, 2009

Nach einer rauen Nacht lag ein kleiner Stein an einem Strand. Seine Oberfläche  an der einen Seite vom Meer glatt gewaschen schimmerte in einem fahlen Grau, während seine andere Seite gebrochen und kantig von den erlebten Abenteuern erzählte. Obwohl er sich in der Halde, in der gestrandet war, eher unauffällig einreihte, fühlte er sich einzigartig.

So erzählte er den anderen Steinen wie sehr er sich wünschte, zurück ins Meer zu kommen.

Die anderen lachten über ihn und wendeten sich ab. Doch ein Stein, ebenso grau und angeschlagen, erklärte ihm schließlich: „Ich weiß ganz genau wie du dich fühlst. Ich hänge hier schon ewig herum und würde alles tun, um ins Meer zurück zu kommen. Aber von hier kommst du nicht weg!“ Der kleine Stein überlegte nicht lange und fragte nach dem Warum.

„Hier hast du doch keine Wahl. Deine einzige Chance ist ein starker Sturm. Der könnte die Wellen so weit zu uns tragen, dass wir mit einem bisschen Glück erfasst und zurück ins Meer gerissen werden“, seufzte der andere.

„Aber was ist, wenn dieser Sturm niemals kommt?“

„Was schon. Wir bleiben hier. Für immer.“

Dem kleinen Stein gefiel diese Aussicht überhaupt nicht und er behauptete: „Ich werde zurück ins Meer kommen. Daran glaube ich ganz fest. In meiner Vorstellung rolle ich bereits in der Strömung und spiele mit den Muscheln am Meeresgrund.“

„Blödsinn, du kannst ja nicht einfach hineinlaufen“, wehrte der andere ab.

Doch der kleine Stein ließ sich von der Schwarzmalerei nicht irritieren. „Es gibt immer einen Weg und du wirst schon sehen wie schnell ich wieder im Meer herumtollen werde.“

In diesem Moment spazierte ein kleines Mädchen direkt an den beiden vorbei. Der kleine Stein überlegte nicht lange und rief voller Inbrunst: „Wirfst du mich bitte zurück ins Meer?“

Das Mädchen drehte sich um, schaute suchend auf den Boden. Schließlich lächelte es und hob den kleinen Stein auf, rannte ein paar Meter auf das Meer zu und warf ihn in einem hohen Bogen zurück in die Wellen.

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Herzlichen Dank

Ihre Sandy Seeber

© Sandy Seeber, 04. Mai 2015 (überarbeitete Version)

9 Kommentare

    1. Schönes Bild – ein Stein, der die Wellen reitet. Das könnte die nächste Geschichte werden, die ich mir erzähle. Erst der Glaube, dann folgt natürlich auch eine Handlung, also aus der Perspektive des Steins, die Welle auch zu reiten anstatt nur in ihr zu verweilen. Interessanter Gedanke. Lieben Dank dafür 🙂

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  1. Schöne Geschichte! Ich musste schmunzeln, denn manchmal, wenn ich einen Stein aufhebe und in den Fluss oder See werfe, frage ich mich, ob er nicht vielleicht lieber an dem Platz liegen geblieben wäre, wo ihn das Leben hingeführt hat… 🙂

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    1. Interessanter und auch mir bekannter Gedanke. Obwohl ich glaube, dass es mit den Steinen so ist wie mit den Menschen. Wenn uns jemand begegnet und diese Person so handelt wie sie nun mal gestrickt ist, dann hat das einen Einfluss auf uns, den wir uns wohl kaum entziehen können und manchmal auch nicht entziehen wollen. Die Frage, die sich mir hier aufdrängt ist folgende:
      Bleiben wir uns selbst tatsächlich treu, wenn wir am Strand den Wunsch verspüren, einen Stein ins Wasser zu werfen, es dann jedoch nicht tun, weil wir uns fragen, ob der Stein das überhaupt will?

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