Leseprobe: Aus der Sicht der Dinge – Eine ungewöhnliche Freundschaft


Leseprobe:

Aus der Sicht der Dinge – Eine ungewöhnliche Freundschaft

Langsam wandert ein Sonnenstrahl durch ein Fenster. Vorsichtig tastet er sich seinen weiteren Weg zu einem Bett und weiter zu einem Paar blaugrauer Augen. Diese verfolgen bereits neugierig den Weg des ersten Morgenlichts, das kleine funkelnde Staubkörnchen auf- und abtanzen lässt.

Wenn die Sonne nur reden könnte, wo sie doch so viel zu erzählen hätte. Der Gedanke hinter den neugierigen Augen nimmt Formen an. Der Sonnenstrahl schaut sich im Zimmer um, dann im ganzen Haus und am Abend bringt er die Neuigkeiten zurück zur Sonne. Er erzählt ihr seine Erlebnisse und was das Mädchen in dem Zimmer den ganzen Tag über macht. „Er beobachtet mich“, freut sich Lisa, nun hellwach.

Ihr Zimmer befindet sich auf der Ostseite des Hauses. Es ist groß und hat verschiedenfarbig gestrichene Wände. Die Wand mit dem Fenster ist sonnengelb und grenzt an eine orangefarbene Wand. An diese grenzt das Kopfende von Lisas großem Bett, das in ihr Zimmer hineinragt. An der grünen Wand gegenüber steht ein großer Kleiderschrank, der bis zum blauen Himmel reicht. Und die rosafarbene Wand beherbergt die Tür zur Welt der Erwachsenen.

Unter dem Fenster steht ein kleines rotes Sofa, auf dem es sich Lisas Puppen und Plüschtiere gemütlich gemacht haben. Neben dem Sofa steht ein zweistöckiges Puppenhaus und ein blauer Puppenwagen. Während die Siebenjährige ihren munteren Gedanken folgt, fällt ihr der Traum wieder ein. Sie muss ihn unbedingt Nicole erzählen. Lisa schlüpft aus dem Bett und läuft barfüßig über den hölzernen Boden zum Puppenwagen. Behutsam nimmt das Mädchen eine dunkelhäutige Babypuppe aus dem Wagen und bettet sie auf ihren Arm.

„Guten Morgen Nicole“, sagt sie liebevoll und setzt sich auf das Bett. „Na, hast du gut geschlafen? Ich habe wieder von der Prinzessin geträumt. Du weißt schon, die Prinzessin von der ich dir neulich schon erzählt habe. Dieses Mal hat sie geheiratet. Und du glaubst nicht, wen. Einen wundervollen starken Baum. Es war eine schöne Hochzeit in einem Palast, der aus Sternen gebaut war. Stell dir vor, alle haben mit ihr gefeiert.

Die Gläser haben gesungen und sogar der Regenbogen hat seinen Segen gegeben.“ Lisa hält inne und lächelt wissend. „Mir wird der Regenbogen auch einmal seinen Segen geben.“ Die Gedanken in ihrem Kopf schlagen Purzelbäume. Lisa träumt von einem weißen Kleid mit einem Schleier, so lang, dass er ganzen Wäldern und Tälern von der Hochzeit berichten kann. Sie stellt sich vor, wie ein kräftiger Regenbogen über ihr schwebt. Dann beugt er sich freundlich zu ihr herab. „Moment mal“, wundert sich Lisa. „Wo ist denn der Bräutigam?“

Gedankenverloren sitzt das Mädchen auf ihrem Bett, als sich die Tür zu ihrer Welt öffnet. „Guten Morgen Lisa, du bist ja schon auf“, wundert sich eine zierliche Frau mit langem dunklem Haar. „Komm, zieh dich an, es gibt gleich Frühstück.“ „Mama?“ „Ja, Lisa?“ „Wo bekommt man einen Bräutigam her?“ Die Mutter verzieht fragend ihr Gesicht. „Einen Bräutigam? Glaubst du nicht, dass du noch ein bisschen zu jung zum Heiraten bist?“ „Doch nicht für mich! Für meine Geschichte. Ich habe mir gerade eine ausgedacht. Doch ich weiß nicht, wo der Prinz herkommen soll.“ „Für was brauchst du denn einen Prinzen?“ „Na zum Heiraten! Zu einer Hochzeit gehören doch zwei, oder?“ „Stimmt. Es ist ganz schön schwer, dir zu folgen. Aber du hast Recht. Für deine Hochzeit wirst du wohl auch einen Prinzen brauchen. Hm, lass uns mal überlegen. Vielleicht lernt die Prinzessin den Prinzen ja bei einem Tanz kennen?“ Lisa schüttelt energisch mit den Kopf: „Doch nicht wie in Aschenputtel. Es muss ein ganz besonderes Ereignis sein.“ „Vielleicht …“. Die Mutter hält inne und schaut abwesend zum Fenster. Dann sagt sie: „Vielleicht fällt uns etwas nach dem Frühstück ein. Der Papa wartet nämlich schon.“ „Na gut“, stimmt Lisa zu.

„Guten Morgen Papa“, begrüßt das Mädchen ihren Vater, der hinter einer Zeitung versteckt am Küchentisch sitzt. „Guten Morgen Lisa. Hast du gut geschlafen?“, fragt er, ohne die Zeitung auch nur einen Millimeter zu bewegen. „Habe ich“, antwortet sie. Warum muss er immer so beschäftigt sein? Die ganze Woche ist er nicht da und nun liest er Zeitung. Frag ihn etwas! Aber was? „Papa?“ „Ja, Lisa?“ „Was steht denn in der Zeitung?“ „Nachrichten aus Deutschland und aus aller Welt.“ „Darf ich mitlesen?“ „Das sind noch keine Nachrichten für kleine Mädchen.“ „Wieso denn nicht?“ „Weil es Wirtschaftsnachrichten sind. Die sind für Erwachsene.“ Lisa gibt nicht auf: „Was sind Wirtschaftsnachrichten?“ „Informationen über Unternehmen und über die Börsenkurse.“ „Ist das interessant?“

„Für mich schon.“ Das führt nicht weit, stellt Lisa fest. „Was machen wir denn heute?“ „Lisa, ich mag nur die Zeitung fertig lesen und dann machen wir etwas zusammen, ja?“ „Hm.“ Das hat auch nicht funktioniert. Lisa beißt ein weiteres Mal in ihr Marmeladen-Toast und versucht dabei, die Wörter auf der Zeitung zu entziffern. WIRTSCHAFTSKRISE GEHÖRT DER VERGANGENHEIT AN! „Papa, nur noch eine einzige Frage.“ „Hm?“ „Was ist eine Wirtschaftskrise?“

Zum ersten Mal an diesem Samstagmorgen sieht Lisa das Gesicht ihres Vaters. Seine blauen Augen mustern das Mädchen, während er die Zeitung zusammenfaltet und auf den Tisch legt. „Du lässt mir keine Ruhe, was?“, stellt er lächelnd fest.

„Wieso? Ich möchte nur genauso schlau werden wie du und wissen, was diese Wirtschaftskrise ist.“ „Ich versuche es mal ganz einfach zu erklären. Fertig?“ Lisa nickt. „Also stell dir vor, unsere Familie ist eine Wirtschaft. Jeder hat etwas dazu beizutragen, dass sie funktioniert. Das heißt, im Kühlschrank ist immer etwas zu essen, es ist aufgeräumt und sauber. Jetzt sagst du, ich habe keine Lust, meinen Teil zu erledigen und räumst dein Zimmer nicht auf.

Macht das einen Unterschied auf unsere Wirtschaft?“ Lisa zuckt mit den Schultern. „Genau, zwar ist dein Zimmer nicht ordentlich, aber es wirkt sich kaum auf den Rest der Familie aus. Doch stell dir mal vor, Mama hört auf, einzukaufen oder die Wäsche zu waschen. Was passiert nun?“ „Wir haben nichts mehr zum Essen und zum Anziehen?“, überlegt Lisa laut. „Genau. Wir stellen also fest, dass unsere kleine Wirtschaft sehr sensibel ist, richtig?“

„Aber wir können doch einkaufen gehen. Und die Wäsche können wir auch waschen.“ „Doch wer soll das machen? Du etwa?“ „Hm“ „Wenn wir keine sauberen Sachen haben und der Kühlschrank leer ist, dann haben wir eine kleine Familienkrise. Wir müssen besprechen, wie wir diese Krise am besten lösen.“ „Na das ist doch ganz einfach. Jeder macht einfach, was er machen soll“, findet Lisa. Doch ihr Vater runzelt die Stirn: „Wenn es doch nur so einfach wäre.“

„Warum ist es denn nicht einfach?“ „Lisa, du mit deinen Fragen. Das kann der Papa dir ein anderes Mal erklären. Wir müssen jetzt einkaufen fahren. Es kommt uns nämlich jemand besuchen“, wirft Lisas Mutter ein. Besuch? „Wer kommt denn?“, fragt das Mädchen. „Rate mal?“, grinst nun auch ihr Vater. „Hm? Paul und Paula, vielleicht?“, rät Lisa. „Nein, es ist niemand aus deiner Schule“, schüttelt die Mutter mit dem Kopf.

„Vielleicht …, ach ich weiß nicht. Wer ist es denn nun?“, fragt Lisa ungeduldig. „Du gibst aber ganz schön schnell auf“, findet der Vater. „Aber wenn ich es doch nicht weiß.“ „Es ist einer deiner Onkel“, verrät ihre Mutter nun grinsend. Lisa denkt nach. Onkel Freddie? Das kann nicht sein, der ist doch bestimmt in Australien oder so. „Aber er ist doch weit weg?“, überlegt sie flüsternd. „Wer ist weit weg?“, fragt ihre Mutter.

„Na, Onkel Freddie“, sagt Lisa ungeduldig. Die Mutter schüttelt lächelnd ihren Kopf: „Nicht im Moment. Er kommt uns nämlich heute Nachmittag besuchen.“ Lisa springt vom Stuhl auf und jubelt: „Juhu, Onkel Freddie kommt!” Dann rennt sie aus der Küche. „Wo willst du denn hin? Wir wollen doch gleich einkaufen gehen.“

Lisa hört ihren Vater nicht mehr. Sie ist so glücklich. In ihrem Zimmer angekommen erzählt sie all ihren Puppen und Plüschtieren die Neuigkeit. Auf jeden Fall muss er viele Geschichten von seinen Reisen erzählen und mit ihr spielen. Dann fällt ihr ein, dass sie noch gar nicht weiß, wie lange er bleiben wird. Vielleicht bleibt er dieses Mal sogar länger als sonst. Aufgeregt steckt Lisa ihren Kopf aus der Tür und ruft:

„Mama?” „Ja?” „Bleibt Onkel Freddie wieder eine ganze Woche?“ Lisas Mutter kämmt sich gerade die Haare. „Nicht dieses Mal Lisa. Er kommt nur zum Kaffee.“

„Warum?“, fragt Lisa etwas enttäuscht. „Er hat wundervolle Neuigkeiten für dich“, fährt die Mutter fort. „Ich will aber, dass er ganz viel Zeit für mich hat!“, trotzt Lisa. „Sei nicht traurig. Immerhin kommt er dich heute besuchen.“ Als Lisa später einen mittelgroßen Mann mit kurzem braunem Haar auf das Haus zukommen sieht, ist sie nicht mehr zu bremsen. Sie rennt aus der Tür. „Onkel Freddie, Onkel Freddie!“ Der Onkel hebt Lisa in die Luft und dreht sich dabei um die eigene Achse.

Nur einen kurzen Moment später stellt er das Mädchen wieder auf seine Beine. „Puh, bist du groß und schwer geworden. Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, warst du gerade einmal so groß.“ Dabei hält er seine Hand unter seine Hüfte. „Das stimmt nicht“, beschwert sich Lisa und schiebt Freddies Hand bis kurz unter seine Brust.

„Ich war mindestens so groß.“ „Na, dann bist du aber nicht viel gewachsen was?“, neckt Onkel Freddie und zwinkert schelmisch mit seinen Augen. Bevor er richtig hallo zu Lisas Eltern sagen kann, zieht das Mädchen seinen Onkel auch schon hinter sich her. „Komm, ich zeig dir meine Spielsachen. Erinnerst du dich an meine Friseurpuppe?“ „Natürlich, sind ihre Haare denn wieder nachgewachsen?“ fragt er grinsend. Lisa schüttelt ratlos den Kopf.

Doch einen Moment später zeigt sie auf den blauen Puppenwagen. „Und Nicole ist dort.“ „Ach deine Babypuppe. Und da ist ja auch dein Hase Tony. Warum sitzt er denn nicht mehr auf deinem Bett. Hast du jetzt ein neues Lieblingsplüschtier?“ „Nein, eigentlich nicht. Aber ich dachte Tony würde es besser gefallen, wenn er bei den anderen Spielsachen ist. Im Bett ist es tagsüber immer so einsam.“ „Ach so, das klingt überzeugend. Und wer ist das?“

Freddie zeigt auf einen Plüschtiger. „Das ist Max. Den habe ich von Paul und Paula zum Geburtstag bekommen“, erklärt Lisa. „Aha, und was spielst du im Moment am liebsten?“ Lisa überlegt einen Moment und antwortet: „Ich unterhalte mich mit den Dingen über die Bäume, den Regenbogen, das Gras und den Himmel. Ich bin die Prinzessin, Tommy ist mein Prinz, Max ist mein Geheimagent und Nicole mein Baby. Manchmal spiele ich auch in der Schule mit Paul und Paula Familie. Aber ich bin immer das Kind.“ „Sind Paul und Paula deine Freunde?“

„Wir gehen zusammen in die Schule. Stell dir vor, sie sind am gleichen Tag geboren und trotzdem Geschwister.“ Plötzlich fällt Lisa wieder ein, dass ihr Onkel nur für kurze Zeit da ist. Sie kuschelt sich an ihn. „Warum musst du eigentlich heute schon wieder weg?“ „Ich habe noch so viel zu tun.“ „Was denn?“ „Alles vorbereiten. Ich habe so viel von der Welt gesehen, doch nun wird es Zeit für mich, an einem Ort zu bleiben. So muss ich viel organisieren.

Eine Wohnung einrichten, eine Arbeit finden und Sachen besorgen, die ich brauche.“ „Du kannst doch hier in meinem Zimmer wohnen?“ Der Onkel lacht. „Warum bin ich darauf denn nicht früher gekommen.” „Genau, und dann kannst du mir jeden Abend eine Geschichte erzählen”, überlegt Lisa begeistert weiter. „Das wäre schön was? Aber ich habe schon am anderen Ende der Stadt eine Wohnung angemietet.“ „Warum?” „Weil sie mir gefällt.”

„Ach so”, flüstert Lisa enttäuscht. „Kommst du mich trotzdem ganz oft besuchen?“ „Natürlich und du mich. Jedenfalls werden wir uns bestimmt öfter sehen. Auch wenn ich erst einmal viel zu tun habe.” „Erzählst du mir eine Geschichte?“ „

Hm, ich habe etwas viel Besseres“, sagt Onkel Freddie geheimnisvoll und holt aus seiner Tasche ein kleines, braunes, wuscheliges Bündel hervor. „Was ist das denn?“ „Das ist Osito. Ein kleiner Teddybär aus Alpaka Fell.“ Als Lisa nach dem Teddy greift, zieht sie sofort ihre Hände zurück.

„Das fühlt sich aber komisch an? Als wenn er, hm…” Lisa überlegt wie sie das Gefühl beschreiben soll. „… als wenn er ganz echt ist.“ „Aber das ist er doch auch. Osito kommt aus Peru und sein Fell stammt von einem echten Lama.“ Onkel Freddie reicht Lisa den Teddybären und beteuert: „Beim zweiten Mal ist es nicht mehr so ungewohnt.“

Vorsichtig nimmt Lisa das wuschelige Bündel in ihre Hände. Diesmal fühlt es sich schon angenehmer an, obwohl das Fell immer noch außergewöhnlich weich ist. Lisa betrachtet das Plüschtier von allen Seiten. Seine braunen Knopfaugen sind vom langen Fell verdeckt. „Er sieht ja gar nichts“, stellt sie fest und streicht sanft die weichen Haare aus seinem Gesicht. Ein Lächeln huscht über Freddies Gesicht.

„Schön, dass du dich schon um ihn kümmerst. Das ist gut. Osito möchte nämlich gern bei dir bleiben. Doch du musst auch wissen, dass Osito nicht einfach nur ein kleiner Teddybär ist. Er ist etwas ganz Besonderes.“ „Weil er das Fell eines Lamas hat?“, fragt Lisa verwirrt. „Vielleicht auch deswegen. Doch das Besondere an diesem kleinen Teddybären ist, dass er die ganze Welt mit mir bereist hat. Und weißt du noch etwas?“ Freddie wartet einen Moment und flüstert dann:

„Wenn du ihn ganz lieb und respektvoll behandelst, wird er dir von unseren Abenteuern erzählen.“ Lisa macht große Augen. „Ehrlich? Er wird mir tatsächlich Geschichten erzählen?“ „Wenn du genau zuhörst. Du musst wissen, nicht jeder kann ihn verstehen.“

„Aber warum spricht er denn jetzt nicht?“, fragt Lisa zweifelnd. „Er ist ein ganz besonderer Bär und er spricht nicht mit jedem. Wahrscheinlich muss er erst Vertrauen zu dir aufbauen. Es kommt also auf dich an, ob du ihn tatsächlich verstehen kannst oder nicht. Allerdings kann ich mir vorstellen, dass Osito dir seine Geschichten anvertrauen wird. Schließlich bist du ein ganz besonderes Mädchen mit ganz viel Fantasie und Vorstellungsvermögen.“

Lisas Gedanken schlagen Purzelbäume. Ein Teddybär, der ihr Geschichten erzählt. Das wäre ja das beste Geschenk, das sie je bekommen hat. Sie umarmt ihren Onkel überschwänglich, sicher, dass das Plüschtier ihr vertrauen wird. Dann wendet sich Lisa ihrem neuen Freund zu: „Hallo Osito. Ich bin Lisa und ich bin schon ganz gespannt auf deine Geschichten.“

Sie drückt den Teddy ganz fest an sich. „Hab Geduld, Lisa. Osito wird seine Zeit brauchen, um sich an dich zu gewöhnen.“ Eigentlich möchte sie lieber ihren Onkel die ganze Zeit bei sich haben. „Onkel Freddie, kannst du nicht einfach bei mir bleiben? Wir können zusammen spielen, du kannst mir Geschichten erzählen und wir können alles zusammen machen.“ Der Onkel schmunzelt: „Das würde dir gefallen, was?“ Damit fängt er an, Lisa zu kitzeln.

Sie lacht, bis ihr der Bauch weh tut. „Freddie! Lisa! Hier warten ein paar Leckereien auf euch“, ruft Lisas Mutter aus dem Wohnzimmer. „Wer zuerst in der Stube ist, gewinnt!“, entscheidet Lisa und spurtet los. Lisa erreicht knapp vor ihrem Onkel das Wohnzimmer. „Erster. Ich bin Erster. Ich hab gewonnen“, ruft sie lachend. „Aber nur ganz knapp“, keucht Onkel Freddie. Doch Lisa hat ihre Aufmerksamkeit bereits dem Apfelkuchen, ihrem Lieblingskuchen, gewidmet. Sie beeilt sich mit ihrem Stück und möchte ihren Onkel gleich wieder für sich allein haben.

Sie zieht an seinem Arm: „Komm, wir gehen wieder in mein Zimmer.“ Doch Freddie, in eine Unterhaltung mit Lisas Eltern vertieft, rührt sich nicht. „Lisa, lass Onkel Freddie in Ruhe seinen Kaffee trinken“, bestimmt ihr Vater. „Ich will aber jetzt mit ihm spielen”, beharrt das Mädchen. „Lisa, ich bin in ein paar Minuten bei dir, versprochen. Warum gehst du nicht schon einmal vor und stellst Osito deinen Spielsachen vor?“, schlägt ihr Onkel vor.

Lisa trottet zurück in ihr Zimmer und setzt sich auf das Bett. Wie immer, denkt sie missmutig. Sie schaut den Teddybären an: „Osito, verstehst du das? Immer geht es nur nach den Erwachsenen. Selbst Onkel Freddie macht, was Mama und Papa wollen. Ich wünsche mir so sehr einen Freund, der immer für mich da ist. Nur für mich!“

Osito rührt sich nicht. Auch die anderen Spielsachen bleiben unbeweglich an ihren Plätzen. „Ihr seid auch nicht wirklich meine Freunde. Mama sagt, Dinge reden nicht. Sie hat Recht und auch Osito wird mir keine Geschichten erzählen. Warum versteht mich nur keiner? Keiner will mit mir spielen. Immer haben alle etwas anderes zu tun“, meckert das Mädchen weiter vor sich hin, ohne zu bemerken, dass ihr Onkel bereits leise das Zimmer betreten hat.

„Du bist aber nicht sehr nett zu deinen Spielsachen“, findet er leise, während er sich neben Lisa auf das Bett setzt. „Aber es ist doch wahr. Immer haben alle gerade etwas Wichtiges zu tun oder zu besprechen.“ „Ach, Lisa, es ist nicht so einfach, alles unter einen Hut zu bringen und jedem alles recht zu machen. Unser Leben besteht auch aus ein paar Regeln, denen wir uns fügen müssen, auch wenn wir das nicht immer schön finden. Jetzt, als Kind, kannst du deiner Fantasie noch freien Lauf lassen.

Du hast sogar die Freiheit, die Welt der Dinge zu entdecken. Als Erwachsener wirst du kein Ohr mehr dafür haben, was die Dinge zu sagen haben. Möglicherweise nimmst du sie dann nicht einmal mehr als etwas Besonderes wahr. Für eine Freundschaft mit Osito ist jetzt genau die richtige Zeit.” „Bist du denn mit Dingen befreundet gewesen, als du noch klein warst?“, fragt Lisa ihren Onkel neugierig. Freddie nickt: „Als ich etwa in deinem Alter war, hatte ich einen kleinen grauen Teddybären. Ich habe ihm alles erzählt.

Manchmal, wenn mich die anderen Kinder in der Schule oder auf dem Spielplatz geärgert oder gehänselt haben, habe ich ihm das ins Ohr geflüstert. Er war der einzige, dem ich das je erzählt habe. Eines Abends hat er angefangen, mich zu trösten.“ „Echt? Und wo ist dein Teddy jetzt?“ will Lisa wissen.

„Als ich mich entschied, die Welt zu entdecken, habe ich meinen Teddy an ein kleines Mädchen in der Nachbarschaft gegeben. Sie war immer so traurig und lächelte niemals. Ich dachte, dass sie einen guten Freund gebrauchen könnte.“ Der Onkel hält für einen Moment inne, bevor er nachdenklich fortfährt: „Was sie heute wohl macht und ob der Teddy sie auch getröstet hat?“ Doch Lisa bohrt weiter: „Hat Osito auch mit dir gesprochen?“, fragt Lisa. „Osito, was? Nein, Osito hat nicht mit mir gesprochen. Ich glaube ich bin zu erwachsen, um tatsächlich zu hören, was er sagt.“

Als sich Freddie verabschiedet, verspricht er Lisa, sie zu besuchen, sobald er sich richtig eingelebt hat. Am nächsten Abend macht sich auch ihr Vater auf den Weg. „Warum musst du denn immer weg?“, fragt Lisa traurig. „Ich muss doch arbeiten, das weißt du doch“, antwortet ihr Vater geduldig. „Warum kannst du denn nicht hier arbeiten?“ „Lisa, ich mag meine Arbeit in Berlin und es gibt keine Möglichkeit, sie hier zu machen.“

Während der letzte Sonnenstrahl an diesem Tag seine Bahn einzieht und der Dämmerung den Vortritt lässt, hört Lisa das Auto ihres Vaters wegfahren. Sie nimmt ihren neuen Freund in den Arm. Bis jetzt hat der kleine Bär noch nicht mit ihr gesprochen und Lisa überlegt, wie sie sein Vertrauen gewinnen kann.

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16 Kommentare

  1. super, ich bin zwar mit dem ersten kapitel noch nicht ganz durch, weiß aber schon das ich weiter lesen möchte, wollte mir das buch ja auch kaufen :-), also los, gib mir mehr davon

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  2. Hi liebe Sandy,
    war einige Tage gar nicht bei FB, drum hab ich das 1. Kapitel erst heute gelesen. Aber ich find’s super, bin schon ganz neugierig wie’s weitergeht und würde mich gern mit dem Buch in die Ecke kuscheln und es meinem Teddybär Peter vorlesen. 🙂
    Ganz liebe Grüße
    von Freya

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  3. Hallo Sandy,

    hab mich sehr gefreut, endlich mal was aus deinem Roman lesen zu können! Ist wirklich schön geschrieben und natürlich will ich unbedingt wissen wie es weiter geht!

    Ganz lieben Gruß
    … und vielen Dank für die liebe SMS :o)

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